Was hat eine archaische Tragödie mit Mediation zu tun?
Und warum lohnt es sich, Strawinskis Oedipus Rex nicht nur zu hören – sondern als Resonanzraum für Selbstklärung, Beziehung und Verantwortung zu lesen?
Ich sah – und doch war ich blind.
Ein Essay über Erkenntnis, Selbstunterbrechung und das Hören am Rand des Sichtbaren. Strawinskis Oedipus Rex im Spiegel des Ad_Monter Meta Modells.
Ouverture – Der Klang des Fatum
„Ich bin Oidipus.“ Kein Ausruf, sondern ein Einbruch. Kein Held, sondern ein Spiegel. Kein Geständnis, sondern eine Schwelle.
Am 27. Juli 2025 begann im Großen Festspielhaus in Salzburg kein Schauspiel im herkömmlichen Sinn, sondern ein Ritus. Igor Strawinskis Oedipus Rex, komponiert 1927 in lateinischer Sprache, erklang als Teil der diesjährigen „Ouverture spirituelle“ – jenes Zyklus’ der Salzburger Festspiele, der sich 2025 dem Thema Fatum widmet: dem Unabwendbaren, dem durch Sprache und Struktur Verdichteten.
Die Bühne war nicht leer – im Gegenteil: voll besetzt mit Chor, Solist:innen, den Wiener Philharmonikern, Dirigent und Erzähler. Und doch wirkte sie still. Keine Geste, keine Inszenierung, keine Handlung im Raum. Dafür eine tektonische Setzung: Musik als Sprache, Sprache als Struktur, Struktur als Spiegel.
In der Stimme von Christoph Waltz, der das Geschehen als Erzähler rahmte, entstand ein zweiter Raum: distanziert, präzise, unbeteiligt – und gerade darin von unheimlicher Klarheit.
1. Der blinde Seher – Sehen, ohne zu erkennen
„Du siehst – und doch siehst du nichts.“
Teiresias ist blind, aber er sieht. Oidipus sieht, aber erkennt nichts. Was wie ein literarischer Kunstgriff erscheint, ist in Wahrheit eine archetypische Figur: Wahres Sehen beginnt dort, wo das Sichtbare endet.
Teiresias sieht, wie das Geschehen gemeint ist – nicht nur, was geschieht. Er erkennt Ordnung im Unverfügbaren. Oidipus dagegen fragt, klärt, beobachtet – aber nur in erster Ordnung.
Seine tragische Wendung liegt nicht im Verbrechen, sondern in der Erschütterung seines Selbstbildes. Als er erkennt, wer er ist, sagt er: „Ich bin der, den ich suche.“ Und in diesem Moment zerfällt die Trennung zwischen Frage und Antwort.
Seine Selbstblendung ist keine Strafe, sondern ein Schnitt. Ein Übergang. Ein Aufgeben der alten Sicht.
In der Sprache des Ad_Monter Meta Modells liegt hier der Resonanzraum von c-me offen. Doch er führt nicht direkt in Gestaltung (c-it²). Erst über den Raum des c-us – der dialogischen Spiegelung – kann ein System beginnen, sich neu zu formen.
2. Strawinskis Form – Musik als Ritual der Distanz
„Ich wollte kein Theaterstück vertonen, sondern ein Monument.“ – Igor Strawinski
Oedipus Rex ist keine Oper im dramatischen Sinn. Es ist eine Form. Ein Ritual. Eine Architektur aus Sprache, Blockstruktur, lateinischem Text und strenger Statik.
Der Erzähler – bei den Salzburger Festspielen Christoph Waltz – steht außerhalb des Geschehens. Er spricht, aber gehört nicht dazu. In der Admonter Raute ist dies der Raum von c-us: Das hörende System, das sich nicht einmischt, aber sichtbar macht.
Auch der Chor handelt nicht. Er kommentiert. Wiederholt. Bezeugt. Die Musik: nicht expressiv, sondern formstiftend. Keine Lösung – sondern Struktur. Keine Entwicklung – sondern Setzung.
Die Musik lässt Raum. Und in diesem Raum: das, was nicht mehr gesagt werden kann – aber gehört werden muss.
3. Selbstblendung – Vom Wissen zur Haltung
Oidipus blendet sich. Nicht aus Reue – aus Einsicht.
Er erkennt, dass sein bisheriges Sehen ihn getäuscht hat. Die Selbstblendung ist kein emotionaler Höhepunkt, sondern eine symbolische Unterbrechung.
In der Struktur des A_MMM ist dies der Moment, in dem Selbstklärung (c-me) an ihre Grenze stößt – und über c-us in Gestaltung übergehen kann (c-it²).
Strawinskis Musik rahmt diesen Moment mit Stille – nicht mit Erlösung.
4. Die drei Wege in der Tragödie
Verstehen. Begegnen. Gestalten.
Verstehen
Oidipus sucht nach der Ursache der Pest. Er fragt, deutet, klärt – ohne sich selbst zu sehen. Der Weg des Verstehens beginnt – und bricht dort, wo das eigene Bild Risse bekommt.
Begegnen
Teiresias, Jokaste, der Chor: keine Figuren – Spiegel. Oidipus begegnet dem, was er nicht sehen wollte – im Anderen.
Gestalten
Die Selbstblendung ist kein Ende, sondern ein Angebot an die Ordnung. Gestaltung geschieht nicht durch Wissen, sondern durch Haltung.
„Vielleicht ist Strawinskis Oedipus Rex kein Musikdrama – sondern ein kartografiertes Fragen.“
5. Coda – Was bleibt zu sehen, wenn wir nicht mehr hinsehen können?
Vielleicht war es nicht Oidipus, der fiel – sondern ein System, das sich selbst nicht sehen konnte.
Am Ende der Aufführung war alles gesagt – aber nichts abgeschlossen. Was bleibt, ist ein Raum. Ein Zwischenraum. Ein Resonanzfeld.
Und das Ad_Monter Meta Modell? Es hört dort weiter, wo Worte enden – in Feldern, die nicht verbinden, sondern berühren.
Zum Nachsinnen
Verstehen
- Was in mir bleibt ungesehen, obwohl ich täglich darauf blicke?
- Wo täusche ich Klarheit vor – und spüre doch Unruhe?
Begegnen
- Wer oder was in meinem Leben war einmal mein Teiresias?
- Wo hat mir jemand etwas gespiegelt, das ich selbst nicht sehen konnte?
Gestalten
- Was müsste ich unterbrechen, um anders weitergehen zu können?
- Welche Entscheidung verlangt nicht mehr Wissen – sondern Haltung?
Erarbeitet im Rahmen des Newsletters „Mediation & Wandel“ – und inspiriert von der Aufführung von Strawinskis Oedipus Rex bei den Salzburger Festspielen 2025.