Prolog – Stimmen, die ihre Rollen verlassen
Die Felsenreitschule ist an diesem Abend ein Resonanzkörper. Drei Männerstimmen füllen die Rollen von drei Frauen – nicht als Provokation, sondern als künstlerische Entscheidung, die den Figuren eine andere Farbe gibt.
Peter Eötvös hat Tschechows Drama nicht linear vertont, sondern in ein musikalisches Triptychon verwandelt: drei Sequenzen, jede aus der Sicht einer anderen Figur erzählt – Irina, Andrej, Mascha. Jede Perspektive bringt nicht nur ein eigenes Handlungsmuster, sondern auch eine eigene Klangfarbe. Irina klingt in Oboe und Englischhorn, Mascha in zwei Klarinetten, Olga in Flöte und Altflöte. Tusenbach ertönt in warmen Hörnern, Werschinin in Flügelhorn und Trompete, Andrej im sonoren Fagott. Diese Zuordnung verleiht jeder Figur einen unverwechselbaren Ton – hörbar eigenständig, selbst wenn sich die Stimmen im dramatischen Dreiklang begegnen.
Unter der musikalischen Leitung von Maxime Pascal (Ensemble im Graben) und Alphonse Cemin (Orchester hinter der Bühne) entsteht ein doppelter Klangraum: vorn die Stimmen der Figuren und ihre persönlichen Beziehungen, dahinter die orchestrale Fläche, die das gesellschaftliche Umfeld spürbar macht. Regisseur Evgeny Titov inszeniert diese Ebenen nicht gegeneinander, sondern lässt sie ineinander wirken – wie Vorder- und Hintergrund in einem Bild, die gemeinsam das Ganze tragen.
Die Bühne zeigt einen gebrochenen Bahndamm, der das Geschehen wie ein stummer Zeuge begleitet. Die Verbindung nach Moskau ist nicht nur weit – sie ist unüberwindbar. „Moskau“ wird zum unsichtbaren Dritten im Raum: eine Struktur, die Gespräche rahmt, Entscheidungen beeinflusst, Beziehungen verschiebt.
Vom Opernraum in den Mediationsraum
In der Mediation gibt es solche unsichtbaren Dritte oft: Unsichtbare Dritte – eine Regel, ein Vertrag, ein gemeinsames Narrativ – sitzen nicht am Tisch, und doch färben sie jedes Wort, jede Geste.
Wie auf der Bühne treten die Beteiligten zunächst mit klaren, als objektiv empfundenen Sichtweisen auf – c-it¹, das Feld des Beobachtbaren und Faktischen. Doch jede Darstellung ist subjektiv gefärbt, selektiv, eingebettet in persönliche Erfahrungen und Gefühle. Im Ad_Monter Meta Modell (A_MMM) ist das kein Mangel, sondern der Ausgangspunkt.
Der Weg des Verstehens im A_MMM
Das Modell kennt keinen Sprung vom Standpunkt direkt in die Lösungsfindung. Zwischen der Darstellung der Sache und der Begegnung liegt der Weg des Verstehens:
- c-it¹ – Darstellung: Jede Partei bringt ihre Sicht der Sache ein.
- c-me – Selbstklärung: Reflexion der eigenen Sicht und ihrer Wirkung auf das eigene Sein.
- c-us – Begegnung: Dialograum, in dem wechselseitiges Verstehen entsteht und sich ein gemeinsamer Blick öffnen kann.
- c-it² – Kooperation: Struktur und Ordnung für tragfähige Lösungen nutzen.
Diese Abfolge ist nicht beliebig. Sie schützt vor der Versuchung, zu früh „lösungsorientiert“ zu sein, bevor das Fundament der Verständigung gelegt ist.
Eine Szene als Spiegel
Es gibt in der Oper einen Moment, in dem die drei Stimmen fast ununterscheidbar ineinanderfließen. Man weiß nicht mehr genau, wer singt – nur, dass etwas gemeinsam klingt. Doch dieser Moment hat Gewicht, weil zuvor jede Stimme einzeln stand, ihr eigenes Timbre behauptet hat.
So ist es auch in der Mediation: Gemeinsamkeit hat nur dann Substanz, wenn die Eigenständigkeit zuvor anerkannt und geklärt wurde.
Schluss – Rückkehr auf die Bühne
Als die letzten Töne verklingen, bleiben die Schwestern dort, wo sie begonnen haben – verbunden und getrennt zugleich. Anders als bei Tschechow endet Eötvös’ Oper ohne den letzten Rest Hoffnung auf eine „segensreiche Zukunft“. Die Musik zieht sich zurück in Zeichen der Abkapselung – ein Pfeifen, das Mascha vor anderen abschirmt. In der Sprache des A_MMM bleibt der Prozess hier im Spannungsfeld von Selbstklärung (c-me) und Beziehung (c-us), ohne den Weg in eine tragfähige gemeinsame Ordnung (c-it²) zu finden. Auch in der Mediation kann das geschehen – wenn die Beteiligten zwar einander zuhören, aber keine gemeinsame Gestaltungsbasis erkennen.
„Moskau“ ist nicht nähergerückt. Aber das Publikum hat erlebt, wie Stimmen und Haltungen sich verschieben können, ohne dass der Ort erreicht werden muss.
Poetischer Kernsatz: Zwischen der Stimme und ihrem Echo liegt der Raum, in dem Verständigung beginnt.
Reflexion – Das Dritte im eigenen Kontext
- Welches „unsichtbare Dritte“ wirkt in Ihren Gesprächen, ohne am Tisch zu sitzen?
- Wie verändert sich Ihr Blick, wenn Sie zunächst Ihre eigene Stimme (c-me – Selbstklärung) klären, bevor Sie in den Dialog (c-us – Beziehung & Resonanz) gehen?
- Welche Rahmen, Regeln oder Strukturen (c-it² – Struktur & Kooperation) könnten vom „Gegner“ zum „Werkzeug“ werden?
Das Erkennen dieser stillen Mitspieler ist oft der erste Schritt, um Spannungen in Gestaltungskraft zu verwandeln.